Der Samen ist gelegt
Der Islam gibt keine Regierungsform vor und ist nicht antidemokratisch - Ein starker Staat gilt als gemeinsamer Nenner
VON MICHAEL HESSE
Der Machtstaat kommt vor der Demokratie. Die westlichen Gesellschaften tappen immer noch in dieselbe Falle, wenn sie sich Rechenschaft darüber abgeben wollen, ob in den Staaten islamischer Prägung Demokratie möglich sei oder nicht. Sie unterliegen einer Begriffsverwechslung. Zu unterscheiden ist zweierlei: Die institutionelle Ordnung ist das eine, die Frage nach Moral, Ethik und Lebensstil islamischer Gesellschaften das andere. Islamwissenschaftler wie Gudrun Krämer von der FU Berlin trennen beide Felder. Denn dass sich rein institutionell in den islamischen Staaten durchaus demokratische Strukturen entwickeln lassen, wird wegen der hierfür vorliegenden islamischen Grundlagen kaum als Problem angesehen. Das Gebot der gegenseitigen Konsultation, auf Arabisch Schura, ließe sich einigermaßen mühelos so weiterentwickeln, dass es sich mit einer parlamentarischen Ordnung deckt: als Parlament, das ohne Gewalt einen Regierungswechsel herbeiführen kann. "Der Islam", sagt Krämer, "schreibt keine bestimmte Regierungsform vor." Schwieriger wird es, wenn man damit operiert, was mit islamischer Ordnung und Moral, also dem "Islamic way of life", gemeint ist.
Prinzipiell tritt eine städtische, zum Teil auch ländliche Schicht in den islamischen Ländern für eine freiere politische Ordnung ein. Allerdings fordern sie stets einen Staat, der nach innen und nach außen stark ist. Auf der moralischen Ebene, wo es um die Frage nach der Freiheit im persönlichen Leben und auch in den Lebensentwürfen des Einzelnen geht, herrschen eher rigide, konservative Einstellungen vor. Demokratie wird als Möglichkeit zur politischen Partizipation zwar bejaht, auf eine islamisch geprägte Gesellschaft will jedoch die breite Mehrheit nicht verzichten. Eine liberal-freiheitliche Ordnung streben die meisten nicht an. Für die überwiegende Zahl der Muslime hat die Frage nach dem Stellenwert der Scharia, dem islamischen Recht, das auf dem Koran und der Überlieferung des Propheten Mohammed basiert, durchaus Bedeutung.
So wie die Scharia überwiegend von den Muslimen interpretiert wird, werden Frauen und Männern, Muslimen und Nicht-Muslimen nicht die gleichen Rechte zugesprochen. Islamwissenschaftler glauben, dass dies mit dem entsprechenden Willen geändert werden könnte, etwa, wenn man die Quellen - den Koran und die Überlieferung des Propheten Mohammed - ganz neu interpretiert. Ein langer Weg, der nicht ohne Widerstand zu beschreiten sein dürfte.
Und die Freiheitsrechte des islamischen Rechts sind nicht minder heikel. Wenn diese Freiheit auch beinhalten sollte, dass Mann und Frau frei entscheiden, wie sie leben wollen - ehelich oder nicht-ehelich, mit oder ohne eigene Kinder, heterosexuell oder homosexuell -, und dies öffentlich ausleben wollen, dann würde die allergrößte Zahl der Muslime mit Verweis auf die Scharia immer noch sagen, dass dies gegen den Islam verstoße. Islam-Expertin Gudrun Krämer: "Es mag möglich sein, durch eine andere Lektüre des Korans hier andere Lösungen zu finden, aber die Mehrheit der Muslime will das heute noch nicht."
In den islamischen Staaten von Marokko bis Indonesien ist von einem anbrechenden Zeitalter der Demokratie nach westlichem Muster wenig zu erkennen. Wer auf die Entwicklung der arabischen Staaten wie Saudi-Arabien, den Jemen oder Kuwait blickt, erkennt gar eine Neuaufstellung autokratischer Strukturen. Gewiss, im Libanon, in der Türkei, in Marokko oder auch in Ägypten ist eine Diskussion über demokratische Strukturen im Gange, nur wird diese anders geführt, als es dem Westen vertraut ist. Und auch der Iran ist zwar ein Land, in dem derzeit die öffentliche Auseinandersetzung darüber, wie ein den eigenen Bedingungen angemessenes politisches System aussehen soll, mit Heftigkeit und Gewalt geführt wird. Allerdings gilt sie der Frage, ob jene islamische Ordnung, die von Staats wegen herrscht, die richtige für das Land sei.
Kurz- und mittelfristig ist zu erwarten, dass sich die autoritären Staaten neu aufstellen, neu konfigurieren, ihre autoritäre Ordnung in neuer Weise zum Ausdruck bringen. "Langfristig halte ich auch eine Demokratisierung für denkbar. Ich würde mich aber sehr zurückhalten gegenüber konkreten Prognosen", sagt Krämer. Auch eine Demokratisierung müsse nicht bedeuten, dass die öffentliche Auseinandersetzung zurückgeht oder dass die Konfliktpotenziale und die Ausübung von Gewalt reduziert würde. In den nächsten Jahren wird man in den islamischen Ländern weiter mit sehr vielen Spannungen, mit Konflikten und viel Kritik auch an westlichen Wertvorstellungen und einer Fortdauer von Gewalt rechnen müssen.

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